Das Anwaltsprivileg in Österreich

Zwischen einem Rechtsanwalt und seinem Mandanten besteht ein besonderes Vertrauensverhältnis, das von der Rechts­ordnung durch das Anwaltsprivileg geschützt wird. Eine kürzlich erlassene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland zur Dieselaffäre zeigt nun jedoch die Grenzen dieses Schutzes und wirft auch Fragen über den Umfang des Anwaltsprivilegs in Österreich auf.

1. Die Dieselaffäre – der Anlassfall

In den USA wurden – wie öffentlich bekannt– umfangreiche strafrechtliche Ermittlungen gegen mehrere Autohersteller aufgrund des Verdachts von Abgasmanipulationen an Dieselfahrzeugen geführt. Im September 2015 beauftragten die Volkswagen AG und die Audi AG die Rechtsanwaltskanzlei Jones Day mit der rechtlichen Beratung sowie mit internen Ermittlungen („Internal Investigations“) zur Aufarbeitung des Sachverhalts. Das Strafverfahren in den USA endete laut Medienberichten mit einem sogenannten "Plea Agreement", mit dem die Volkswagen AG sich zur Zahlung einer Strafe in Höhe von USD 2,8 Milliarden verpflichtete. Daraufhin leitete auch in Deutschland die Staatsanwaltschaft München ein Ermittlungsverfahren wegen Betrugs und strafbarer irreführender Werbung ein. Im Zuge des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens kam es zur Durchsuchung der Geschäftsräumlichkeiten der Rechtsanwaltskanzlei Jones Day in München. Dabei wurden Unterlagen sichergestellt, die im Zuge der Internal Investigations zur internen Aufklärung der Dieselaffäre erstellt worden waren. Zu diesem Zeitpunkt war Jones Day zwar mit den Internal Investigations, jedoch nicht mit der Verteidigung eines der Beschuldigten im Strafverfahren beauftragt. Die Kanzlei Jones Day und drei dort tätige Anwälte erhoben Beschwerden an das Landgericht München, die sich sowohl gegen die Durchsuchung der Kanzleiräumlichkeiten als auch gegen die Sicherstellung der Unterlagen richteten. Das Landgericht München verwarf die Beschwerden als unbegründet.

 

Aus diesem Grund brachten die Rechtsanwaltskanzlei Jones Day und die drei dort tätigen Rechtsanwälte Verfassungsbeschwerde beim deutschen Bundesverfassungsgericht ein. Sie begründeten ihre Verfassungsbeschwerde unter anderem damit, dass nicht die formale Stellung  des Mandanten als Beschuldigter im konkreten Ermittlungsverfahren entscheidend sein darf, sondern nur das Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandanten, sodass die Sicherstellung der Unterlagen in der Kanzlei verfassungswidrig sei. Auch die Verfassungsbeschwerden blieben ohne Erfolg: Das Bundesverfassungsgericht bestätigte die Entscheidungen der Vorinstanzen und erachtete die Sicherstellung der Unterlagen als rechtmäßig, weil die Kanzlei eben nicht über ein konkretes Mandat für die Verteidigung eines Beschuldigten verfügte, sodass die Unterlagen auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes zu Recht sichergestellt worden waren.

Diese Entscheidung sorgt nun für Unsicherheiten in Österreich und wirft die Frage auf, wie weit das Anwaltsprivileg in Österreich geht und worauf es nach der österreichischen Rechtslage für umfassenden Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Rechtsanwalt und Mandanten ankommt.

2. Aussageverweigerungsrecht und Umgehungsverbot in Österreich

In Österreich dürfen Rechtsanwälte im Strafverfahren die Aussage über das verweigern, was ihnen in ihrer Eigenschaft als Rechtsanwalt bekannt geworden oder anvertraut worden ist. Das Aussageverweigerungsrecht schützt nicht nur Gesprächsinhalte zwischen dem Mandanten und seinem Anwalt, sondern begründet ein striktes Umgehungsverbot, sodass Strafverfolgungsbehörden das Aussageverweigerungsrecht des Anwalts bei sonstiger Nichtigkeit nicht umgehen dürfen, etwa indem sie Unterlagen oder Datenträger des Rechtsanwalts sicherstellen oder Hilfskräfte des Rechtsanwalts vernehmen. Der Beschuldigte muss daher nicht befürchten, dass er beim Kontakt mit seinem Anwalt ein Beweismittel gegen sich schaffen könnte.

3. Umfang des Anwaltsprivilegs

In Österreich schützt das Umgehungsverbot die gesamte Kommunikation zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Mandanten. Damit ist der gesamte Bereich der Rechtsberatung erfasst. Neben dem Brief- und E- Mail-Verkehr fallen darunter vor allem auch rechtliche Stellungnahmen, Arbeitsbehelfe oder Konzepte, die von einem Rechtsanwalt für seinen Mandanten erstellt werden. Auch Unterlagen, die ein Rechtsanwalt im Zuge von Internal Investigations erstellt, fallen unter das Anwaltsprivileg. Dies betrifft beispielsweise Berichte und sonstige Expertisen des Rechtsanwalts, aber auch Befragungsprotokolle, die im Zuge von unternehmensinternen Ermittlungen erstellt werden.

Das Aussageverweigerungsrecht des Rechtsanwalts darf auch nicht dadurch umgangen werden, dass Hilfskräfte (zB Sekretärinnen) oder Berufsanwärter (zB Rechtsanwaltsanwärter/innen) vernommen werden. Der Begriff der „Hilfskraft“ ist weit auszulegen und umfasst – wie eine jüngere Entscheidung des Obersten Gerichtshofs klarstellte  – auch Dolmetscher, die dem Mandantengespräch beigezogen werden. Ebenso erfasst sind Experten wie Sachverständige, Wirtschaftsprüfer oder Steuerberater, die vom Rechtsanwalt etwa zur Erstellung eines Privatgutachtens oder zur Unterstützung bei unternehmensinternen Ermittlungen in Anspruch genommen werden. Aus diesem Grund ist es zur Absicherung der Verteidigungsrechte sinnvoll, dass solche Experten nicht vom Unternehmen selbst, sondern von der Rechtsanwaltskanzlei beauftragt werden. Auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass die Experten später nicht von den Strafverfolgungsbehörden unter Umgehung des Aussageverweigerungsrechts des Rechtsanwalts vernommen werden können, da sie als „Hilfskräfte“ des Rechtsanwalts nicht vernommen werden dürfen.

4. Grenzen des Umgehungsverbots

Wichtig ist, dass nicht sämtliche Beweismittel, die sich bei einem Rechtsanwalt befinden, automatisch vom Umgehungsverbot erfasst („immunisiert“) sind und somit vor der Verwertung im Strafverfahren geschützt werden. Dabei ist zu unterscheiden: Dokumente, die der Rechtsanwalt (für den Mandanten oder für sich selbst im Zuge seiner anwaltlichen Tätigkeit) erstellt hat, sind vom Umgehungsverbot erfasst, wenn sie dem Zweck der Beratung, Vertretung, Betreuung oder Verteidigung des Mandanten dienen und eigens hierfür erstellt wurden. Darunter fallen alle oben genannten Unterlagen, aber auch Mitteilungen an den Mandanten, interne Aktenvermerke, oder ein Konzept für eine Verteidigungsstrategie. Nicht vom Umgehungsverbot erfasst sind sämtliche Dokumente, die bereits vor der Übergabe an den Rechtsanwalt existiert haben und keine an den Rechtsanwalt gerichtete Mitteilung oder Information beinhalten oder wiedergeben. Darunter fallen bestehende Urkunden, etwa Buchhaltungsunterlagen, Kontobelege, Rechnungen und Mitteilungen, die nicht an den Rechtsanwalt adressiert sind. Derartige Dokumente sollen – sofern sie belastendes Beweismaterial enthalten – nicht durch die Übergabe an den Rechtsanwalt  „immunisiert“  werden können. Solche Urkunden sind nicht vom Umgehungsverbot erfasst und dürfen von den Strafverfolgungsbehörden sichergestellt werden.

5. Klarstellung durch das Strafprozess­rechtsänderungsgesetz I 2016

Lange Zeit war umstritten, in wessen Besitz („Gewahrsam“) sich die sicherzustellenden Unterlagen befinden müssen, damit sie durch das Umgehungsverbot geschützt sind. Durch den neu geschaffenen § 15 Abs 2 Satz 2 Strafprozessordnung („StPO“) stellte der Gesetzgeber nun klar, dass Unterlagen und Informationen, die zum Zweck der Beratung oder der Verteidigung erstellt wurden, weder beim Rechtsanwalt, noch beim Beschuldigten (oder beim Unterneh- men als belangtem Verband) sichergestellt werden dürfen. Daher sind auch Unterlagen, die der Beschuldigte für seine Verteidigung verfasst hat (etwa Notizen, die er mit seinem Rechtsanwalt zum Zwecke der Verteidigung besprechen möchte), vom Schutz erfasst, selbst wenn er sie noch nicht an den Rechtsanwalt übermittelt hat. Vor diesem Hintergrund empfehlen wir unseren Mandanten – im Falle einer drohenden Hausdurchsuchung – solche Unterlagen entsprechend zu kennzeichnen, sodass für Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft auf den ersten Blick erkennbar ist, dass die Unterlagen dem Umgehungsverbot unterliegen und nicht sichergestellt werden dürfen.

6. Rechtsschutz gegen unzulässige Sicherstellungen

Welche Möglichkeiten haben Beschuldigte, wenn die Staatsanwaltschaft solche Unterlagen dennoch sicherstellt? Stellt die Staatsanwaltschaft entgegen dem Umgehungsverbot schriftliche Aufzeichnungen oder Datenträger bei einem Betroffenen sicher, steht diesem nach § 112 Abs 1 StPO ein Widerspruch gegen die Sicherstellung zu. Dies ist jedoch nur zulässig, wenn der Betroffene sich auf ein gesetzlich anerkanntes Recht auf Verschwiegenheit beruft, das bei sonstiger Nichtigkeit nicht umgangen werden darf. Jedenfalls der Rechtsanwalt selbst, der sich auf sein Aussageverweigerungsrecht stützen kann, ist zweifelsfrei Betroffener und kann Widerspruch erheben.

Schwieriger zu beurteilen und durch die Judikatur noch nicht abschließend geklärt ist die Frage, ob nunmehr auch dem Beschuldigten, insbesondere aufgrund der oben beschriebenen Gesetzesnovelle  des § 157 Abs 2 StPO Satz 2 StPO, das Recht auf Erhebung eines Widerspruchs zukommt. Der Oberste Gerichtshof äußerte sich hierzu noch nicht ausdrücklich, deutete jedoch in seiner letzten Entscheidung zu gegenständlichem Themenbereich eine eher restriktive Auslegung des Begriffes „Betroffener“ an. Dabei betonte der Oberste Gerichtshof, dass der Betroffene sich auf sein gesetzlich gewährleistetes Aussageverweigerungsrecht berufen müsse, was nahelegt, dass nur der Berufsgeheimnisträger selbst Betroffener sein kann.

Das ist für eine zweckmäßige Verteidigung nicht zufriedenstellend, da gewichtige Gründe dafür sprechen würden, auch dem Beschuldigten ein Widerspruchsrecht einzuräumen: Mit der Novelle des § 157 Abs 2 Satz 2 StPO wurde klargestellt, dass eben auch Unterlagen die der Beratung/Verteidigung dienen und die sich beim Beschuldigten befinden, bei sonstiger Nichtigkeit nicht sichergestellt werden dürfen.

Weiters verlangt der Gesetzestext des § 112 Abs 1 StPO für die Widerspruchslegitimation gerade nicht, dass dem Gewahrsamsinhaber (bei dem die Sicherstellung durchgeführt wird) auch das Aussagever weigerungsrecht zusteht. Das Aussageverweigerungsrecht  kann daher dem Rechts anwalt zufallen, und trotzdem kann sich der Mandant oder die Hilfskraft auf das Aussageverweigerungsrecht des Rechtsanwaltes berufen. Von dieser Ansicht gehen auch die Gesetzesmaterialien und die herrschende Lehre aus.

Um das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf eine effektive Verteidigung des Beschuldigten nicht zu beschneiden, erscheint es daher sachgerecht, auch dem Beschuldigten ein Recht auf Erhebung eines Widerspruchs gegen die Sicherstellung einzuräumen. Der Widerspruch gegen die Sicherstellung bewirkt nämlich, dass die Unterlagen auf geeignete Art und Weise gegen unbefugte Einsichtnahme oder Veränderung zu sichern und bei Gericht zu hinterlegen sind. Das bedeutet, Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft dürfen bis zur Entscheidung des Gerichtes über den Widerruf nicht Einsicht in die Unterlagen nehmen und die Unterlagen nicht für ihre Ermittlungen verwerten.

Selbst wenn die Judikatur weiterhin von der Einräumung des Widerspruchsrechtes für den Beschuldigten Abstand nehmen sollte, steht dem Beschuldigten bei einer Verletzung des Umgehungsverbotes zumindest das Recht auf Erhebung eines Einspruches wegen Rechtsverletzung nach § 106 StPO zu. Darüber hinaus besteht  im Hauptverfahren (also nach Einbringung der Anklage) ein umfassender Schutz des Umgehungsverbotes: Stützt sich ein Urteil auf ein Beweismittel, das gegen das Umgehungsverbot verstößt, ist es nichtig und kann mit Berufung bzw Nichtigkeitsbeschwerde bekämpft werden.

Diese Rechtsbehelfe gewährleisten allerdings nicht denselben Schutz wie ein Widerspruch, bei dem die Unterlagen erst gar nicht von den Strafverfolgungsbehörden gesichtet werden können.

7. Beurteilung des Anlassfalls nach der österreichischen Rechtslage

Im geschilderten Anlassfall ordneten die deutschen Strafverfolgungsbehörden eine Sicherstellung sämtlicher Unterlagen an, über die die Rechtsanwaltskanzlei im Zusammenhang mit unternehmensinternen Ermittlungen zur Dieselaffäre verfügte. Eine solche Vorgehensweise wäre nach österreichischer Rechtslage in dieser Absolutheit nicht zulässig: Zwar können – wie oben dargestellt– Originaldokumente auch bei Rechtsanwälten sichergestellt werden. Sämtliche Unterlagen, die die Rechtsanwaltskanzlei erst im Zuge der unternehmensinternen Ermittlungen neu erstellt hat, unterliegen jedoch dem Umgehungsverbot. Dies betrifft zB Berichte sowie Zwischen- und Teilberichte, aber auch Unterlagen zu Befragungsprotokollen und sonstige Dokumente, die die Rechtsanwaltskanzlei im Auftrag des Unternehmens  erstellt. Solche Unterlagen dürfen – unabhängig davon, ob sie sich in der Rechtsanwaltskanzlei oder im Unternehmen befinden – nicht sichergestellt werden.

Das deutsche Bundesverfassungsgericht argumentierte, dass die Unterlagen in der Rechtsanwalts kanzlei sichergestellt werden durften, weil kein konkretes Mandatsverhältnis zur Verteidigung einer der Beschuldigten bestand. Hier besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen der österreichischen und der deutschen Rechtslage: Während der deutsche Gesetzgeber mit dem Umgehungsverbot nur schriftliche Mitteilungen zwischen einem Beschuldigten und dessen Verteidiger sowie Aufzeichnungen des Verteidigers über anvertraute Mitteilungen des Beschuldigten erfasst, wird in Österreich das gesamte Verhältnis zwischen Anwalt und Mandant umfassend geschützt. Das Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Anwalt ist auch dann geschützt, wenn der Mandant nicht Beschuldigter oder belangter Verband im Sinne des Verbandsverantwortlichkeitsgesetzes, sondern (nur) Zeuge in einem Strafverfahren ist. Sowohl das Aussageverweigerungsrecht des Rechtsanwaltes als auch das Umgehungsverbot sind in Österreich umfassend geschützt und betreffen jede Form der anwaltlichen Beratung und Vertretung, sodass beispielsweise auch Unterlagen, die zur Beratung oder Vertretung in einer zivilrechtlichen Angelegenheit erstellt werden, vom Umgehungsverbot erfasst sind. Die Unterlagen, die im Anlassfall von der Rechtsanwaltskanzlei im Zuge der Beratung und der damit zusammenhängenden unternehmensinternen Ermittlungen und Verteidigung neu erstellt wurden, wären in Österreich vom Umgehungsverbot geschützt. Die Sicherstellung der Unterlagen, wie sie auf Antrag der Staatsanwaltschaft München vom Münchner Landgericht angeordnet wurde, wäre daher in diesem Umfang in Österreich nicht zulässig gewesen.