Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und die "Klimaseniorinnen" – Ist damit auch in Österreich der Weg für Klimaklagen geebnet?

Die jüngste Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Sachen Klimaklagen kann maßgebliche Auswirkungen auf die österreichische Rechtsordnung haben. Zum einen könnte der Verfassungsgerichtshof im Kontext der Klimaklagen seine strenge Linie zur Antragslegitimation aufgeben; zum anderen könnte nun ein "Recht auf Klimaschutz" aus Art 8 Europäische Menschenrechtskonvention ("EMRK") ableitbar sein. In Österreich gilt die Europäische Menschrechtskonvention und damit auch Art 8 sogar im Verfassungsrang. Müssen die Unternehmen nun mit Klimaklagen rechnen?

"Klimaschutz ist ein Menschenrecht", "ein Paradigmenwechsel" und "historische Entscheidung des EGMR": Die Reaktionen auf das jüngst veröffentlichte Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Causa "Klimaseniorinnen" geizten nicht mit der Verwendung von Superlativen. Tatsächlich handelte es sich um die erste Klimaklage, die vor dem EGMR behandelt und entschieden wurde.

Das Urteil: Der EGMR verurteilte die Schweiz wegen unzureichender Bemühungen im Bereich des Klimaschutzes und stellte damit fest, dass die Antragstellerinnen in ihrem Recht auf Privat- und Familienleben gemäß Art 8 EMRK verletzt wurden – der Klimaschutz wurde, wie schon im "Klimaurteil" gegen Shell in den Niederlanden aus dem Recht auf Privat- und Familienleben abgeleitet, was nicht unbedingt naheliegend ist.

In Österreich hingegen hatten die sogenannten "Klimaklagen" bisher stets einen schweren Stand, weil der Verfassungsgerichtshof die "unmittelbare Betroffenheit" der Antragsteller durch den Klimawandel verneinte. "Klimaklagen" scheiterten daher in Österreich bisher schon an der Antragslegitimation und wurden inhaltlich vom Verfassungsgerichtshof gar nicht behandelt.

Das könnte sich nun ändern – wahrscheinlich ist es uE aber nicht.

Die Entscheidung "Klimaseniorinnen" vor dem EGMR

Der Verein "Klimaseniorinnen Schweiz" zog 2020 gegen die Schweiz vor den EGMR. Im Wesentlichen brachten 4 individuelle Antragstellerinnen, allesamt Pensionistinnen und Mitglieder des Vereins, sowie der Verein selbst vor, dass die zu wenig ambitionierten Klimaschutzbemühungen der Schweiz eine Verletzung des Rechts auf das Leben (Art 2 EMRK), auf Privat- und Familienleben (Art 8 EMRK), sowie des Rechts auf ein faires Verfahren (Art 6 EMRK).

Die interessantesten Punkte der Entscheidung stellen zum einen die Ausführungen des EGMR zur Aktivlegitimation dar. Hier verneinte der EGMR den Opferstatus und damit die Aktivlegitimation für die 4 individuellen Antragstellerin mit Verweis auf die mangelnde unmittelbare persönliche Betroffenheit, wie sie in Art 34 EMRK verlangt wird; die allgemeine Begründung, die Antragstellerinnen würden unter den immer häufiger werdenden Hitzewellen leiden, genügte dem Gerichtshof nicht, ohne dass direkte medizinische Folgen für die Betroffenen darauf resultierten. Der EGMR verneinte hier also – wie der österreichische Verfassungsgerichtshof – bisher die unmittelbare persönliche Betroffenheit. Dafür bejahte er in diesem Fall und im Kontext des Klimawandels die Aktivlegitimation des Vereins, was einer deutlichen Aufwertung der prozessualen Stellung von NGOs im Case Law des EGMR gleichkommt, weil dieser die legitimen Interessen seiner Mitglieder auf Klimaschutz vertreten würde – unverständlich, fehlt es dem Verein doch noch vielmehr als den Antragstellerinnen an persönlicher Betroffenheit.

Am interessantesten in inhaltlicher Hinsicht sind die Ausführungen des EGMR zur Verletzung von Art 8 EMRK: Einzelpersonen hätten ein Recht auf effektiven Schutz vor den schwerwiegenden negativen Auswirkungen des Klimawandels auf ihr Leben, ihre Gesundheit, ihr Wohlergehen und ihre Lebensqualität durch den Staat. Daher hätte dieser eine positive Verpflichtung, geeignete Maßnahmen zur Minderung der Auswirkungen des Klimawandels zu ergreifen und umzusetzen. Damit leitet der EGMR inhaltlich ein Recht auf Klimaschutz aus Art 8 EMRK ab. Das Gericht legte fest, dass jeder Vertragsstaat Maßnahmen zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen ergreifen muss, um letztendlich Co2-Neutralität innerhalb der nächsten drei Jahrzehnte zu erreichen – das ist nichts Neues, werden Grund- und Menschenrechte doch schon seit langem nicht nur als Abwehrrechte verstanden, sondern verpflichten den Staat aktiv grund- und menschenrechtliche Positionen zu schützen (positive grundrechtliche Gewährleistungspflichten).

Seit dem Shell-Urteil in den Niederlanden nicht überraschend, ist die Ableitung eines Rechts auf Klimaschutz aus dem Recht auf Privat- und Familienleben – ob Art 8 EMRK inhaltlich so ausgelegt werden kann, steht freilich auf einem ganz anderen Blatt und kann bezweifelt werden. Klimaschutz ist im demokratischen Verfassungsstaat Aufgabe der Gesetzgebung, aber nicht oder zumindest nur sehr eingeschränkt der Gerichte. Diese sehen das, blickt man etwa auch auf das "Klimaurteil" des deutschen Bundesverfassungsgerichts vor einigen Jahren, aber teilweise anders.

Was bedeutet das nun für die Rechtsprechung in Österreich?

Das volle Ausmaß der Auswirkungen der Entscheidung kann zu diesem Zeitpunkt schwer abgeschätzt werden. Außer Frage steht, dass ihr eine ordentliche, potenzielle Sprengkraft innewohnt. Die EMRK steht in Österreich nämlich bekannterweise im Verfassungsrang. Bei der Auslegung der Bestimmungen der EMRK orientiert sich der Verfassungsgerichtshof üblicherweise stark an der Rechtsprechung des EGMR.

Ob der Verfassungsgerichtshof allerdings seine Zurückhaltung hinsichtlich der Antragslegitimation und der unmittelbaren persönlichen Betroffenheit aufgibt, könnte bezweifelt werden – vor allem im Hinblick auf NGOs bzw Vereine, denen diese gänzlich fehlt. Allerdings konnte in der Vergangenheit in anderen Rechtsgebieten beobachtet werden, dass der Verfassungsgerichtshof, wenn auch mit zeitlicher Verzögerung Rechtsprechungslinien des deutschen Bundesverfassungsgerichts "nachvollzog". Nun gibt es schon so eine Klimaentscheidung in Deutschland. Dass nun auch der EGMR im Hinblick auf das zu geringe staatliche Engagement für den Klimaschutz der Schweiz "einen Schuss vor den Bug" verpasste, könnte auch in Österreich zum Umdenken führen.

Ist nun gesetzgeberische Untätigkeit bekämpfbar?

Österreich hat derzeit kein wirksames Klimaschutzgesetz. Das auf dem Papier existierende Gesetz wurde das letzte Mal 2017 novelliert und enthält bloß Emissionshöchstengen für den Zeitraum bis 2020. Der EGMR hat in seiner Entscheidung mehrere Parameter entwickelt, anhand welcher er feststellte, ob die Schweiz genug für den Klimaschutz tut oder nicht. Im Rahmen dieser Kriterien stellte der EGMR etwa darauf ab, ob der Staat

  • allgemeine Ziele zur Erreichung der Co2-Neutralität innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens im Einklang mit den nationalen und globalen Klimaschutzverpflichtungen festgelegt hat,
  • Zwischenziele und -pfade für die Treibhausgasreduktion definiert hat,
  • die Einhaltung der THG-Reduktionsziele oder entsprechende Bemühungen nachgewiesen hat und
  • die Ziele regelmäßig und mit der gebotenen Sorgfalt aktualisiert hat.

Gerade angesichts der Tatsache, dass solche konkreten Ziele im österreichischen Klimaschutzgesetz seit 4 Jahren fehlen, ist davon auszugehen, dass Österreich den "Test" des EGMR wohl nicht bestehen würde.

Innerstaatlich hat dies aber keine unmittelbaren Konsequenzen, da es schlicht am passenden Instrumentarium mangelt, das Fehlen eines Gesetzgebungsaktes rechtlich zu bekämpfen. Bekämpft werden können Urteile, Bescheide, Verordnungen, Gesetze, Verwaltungsakte; Nicht aber das Fehlen eines gesetzgeberischen Handelns. Sehr wohl denkbar wäre hingegen eine Bekämpfung einer allfälligen Novelle des Klimaschutzgesetzes mit der Begründung, dass etwa die neu vorgesehenen Emissionshöchstmengen nicht ausreichend seien. Damit wäre die Tür zum Rechtschutz geöffnet.

Mögliche Auswirkungen auf Genehmigungsverfahren

Zu guter Letzt kann die Entscheidung auch Auswirkungen auf Genehmigungsverfahren von gewerblichen Anlagen haben. Dies insbesondere dann, wenn es sich um umweltinvasivere Anlagen handelt, da aus der gegenständlichen Entscheidung eine Stärkung des Umweltschutzes abgeleitet werden kann. Es ist möglich, dass Verwaltungsbehörden- und Gerichte, wie das ja hinsichtlich des Klimaschutzes seitens des Bundesverwaltungsgerichts in seiner Entscheidung zur 3. Piste des Flughafen Wiens der Fall war, in Zukunft dem Klimaschutz im Rahmen einer Interessensabwägung ein größeres Gewicht als bisher zuweisen.